DAS (NICHT) GEHEIME LEBEN DER PFLANZEN

Warum ich Pflanzen esse, aber keine Tiere

von Clemens G. Arvay

Gleich vorweg: Ich habe großen Respekt vor Pflanzen. Meine Faszination für Pflanzen war ein wichtiger Grund dafür, dass ich Biologe geworden bin. Allerdings esse ich Pflanzen mit gutem Gewissen, während ich mir dieses reine Gewissen beim Verspeisen von Tieren nicht behalten könnte. Und das hat nicht nur mit wissenschaftlichen Tatsachen zu tun, sondern auch mit den großen Regelkreisen der Natur, die nicht so fehlerhaft sind, dass sie Pflanzen ein Schmerzempfinden oder eine mit den Tieren auch nur annähernd vergleichbare Leidensfähigkeit mitgegeben hätten.

Die persönlichen Vorlieben der Dorothy Retallack

1973 erschien das Buch »The Sound of Music and Plants« aus der Feder einer Frau, die sich ihren Lesern als »Ehefrau eines Arztes, Hausfrau und Großmutter von 15 Enkeln« beschrieb. Sie sang als professionelle Sopranistin in Kirchen. Aber sie mochte keine Rockmusik. Dorothy Retallack war davon überzeugt, dass die harten Gitarrenriffs und Trommelschläge des damals neuen Musikstils schädlich für uns Menschen seien und die soziale Entwicklung von Jugendlichen störten. Offenbar hatte Retallack dabei eine besondere Abneigung gegenüber Led Zeppelin und Jimi Hendrix. Sie benutzte nämlich Alben dieser Interpreten, um sie Pflanzen vorzuspielen. Deren Wachstum verglich sie dann mit Pflanzen, die sie mit Musik von Johann Sebastian Bach bespielt hatte. Laut Retallack seien die Pflanzen aus der »Rockgruppe« schlechter gewachsen als die aus der »Bachgruppe«. Dies beweise, so schlussfolgerte sie, dass Rockmusik schädlich sei.
Wie immer, wenn bei einem Experiment etwas herauskommt, was das Weltbild der Experimentatorin punktgenau bestätigt, wäre größte Vorsicht geboten gewesen. Doch Massenmedien verfügten schon in den Siebzigern nicht über diese Besonnenheit. Die Meldung ging um die Welt: Rockmusik hemmt das Wachstum von Pflanzen, klassische Musik fördert es. Mehr als vierzig Jahre später hält sich dieser Mythos noch immer hartnäckig.
Es sei nur am Rande erwähnt, dass Dorothy Retallacks Versuche in privaten Häusern und nicht in Forschungsglashäusern stattfanden, die zur Durchführung solcher Experimente aber unerlässlich sind. Auch die geringe Gruppengröße von nur fünf Pflanzen und die fehlenden Wiederholungen widersprachen jedem wissenschaftlichen Anspruch.
Fast niemand weiß, dass bereits 1965 durch die Biologen Richard Klein und Pamela Edsall ähnliche Versuche im botanischen Garten in New York durchgeführt worden waren. Das eindeutige Ergebnis: Die Art der Musik hat keinen Einfluss auf die Gesundheit oder das Wachstum von Pflanzen! Allerdings kann sich zum Beispiel die Wahl der Lautsprecher auswirken. Anlagen mit höherer Wärmeabstrahlung können das Wachstum von Pflanzen beschleunigen. Daran wird ersichtlich, wie viele mögliche Tücken und Fallen man bei der Durchführung solcher Versuche berücksichtigen muss.
Ich habe selbst während meiner Studienzeit einen ähnlichen Versuch durchgeführt, um mögliche Tücken dieser Art der Forschung zu erkennen und aufzuzeigen. Ich war schon immer skeptisch im Bezug auf die Behauptung, dass Pflanzen auf liebevolle Behandlung reagieren würden. Aber ich wollte diese weit verbreitete Annahme gemeinsam mit Kollegen empirisch und neutral überprüfen, um Fakten zu schaffen. In einem umfassenden Laborexperiment mit 144 Pflanzen konnten wir unter streng kontrollierten Bedingungen zeigen, dass sich weder Wachstum noch Blütenansatz und auch nicht die Immunfunktion bei Ringelblumen durch positiven Zuspruch beeinflussen ließen. Wir gaben sogar einer Person, die sich als Geistheiler bezeichnete und in Österreich als solcher bekannt war, die Möglichkeit, monatelang durch seine berührungslosen Behandlungen auf die Pflanzen einzuwirken. Doch auch er bewirkte nichts. Dieses Ergebnis hatte ich als „Zweifler“ erwartet. Allerdings muss ich fairer Weise dazu sagen: Ich war überrascht, als unsere Auswertung offenlegte, dass eine der Versuchsgruppen gegenüber der Vergleichsgruppe signifikant stärkeren Schädlingsbefall aufwies. Es handelte sich um die Gruppe, die regelmäßig mit Schimpfworten „behandelt“ wurde. Dieses überraschende Ergebnis ist natürlich noch kein Beleg für eine negative Beeinflussung des pflanzlichen Immunsystems aufgrund von menschlicher Interaktion und müsste in weiteren Versuchen ausführlich untersucht werden. Einmalige Ergebnisse sind nicht aussagekräftig. Wissenschaft muss reproduzierbar sein.

Der »stumme Schrei« der Pflanzen

1974 erschien „Das geheime Leben der Pflanzen“ der Journalisten Peter Tompkins und Christopher Bird. Durch ähnlich fragwürdige Experimente wie im Fall Retallack wollten die beiden bewiesen haben, dass Pflanzen eine Art »stummen Schrei« ausstoßen, wenn man ihnen mit einem Messer einen Schnitt verpasst oder auch nur eines ihrer Blätter mit einem Feuerzeug anbrennen lässt. Der Ausschlag elektromagnetischer Messgeräte belege, dass Pflanzen Schmerzen und Angst empfinden. Auch im aktuellen Jahr 2016 lebt dieser Mythos.Dieselben Messungen hätten auch an einem Tennisball durchgeführt werden können. Jedes Objekt verfügt über ein elektromagnetisches Feld, das sich durch physikalische Störeinflüsse verändert. Ein Rückschluss auf Schmerzwahrnehmung oder Angstgefühle ist keinesfalls zulässig. Noch im Erscheinungsjahr des Buches schrieb der Botanikprofessor Arthur Galston von der Yale University: »Das Problem bei ›Das geheime Leben der Pflanzen‹ ist, dass es beinahe ausschließlich aus bizarren Behauptungen besteht, die ohne stichhaltige Beweise aufgestellt werden.«Fest steht aber, dass Retallack, Tompkins und Bird mit ihren Büchern viel Geld verdienten, denn sie wurden Weltbestseller.

Pflanzenleid und Tierleid – ein und dasselbe?

Es ist Biologen seit vielen Jahrzehnten bekannt, dass die Bäume des Waldes über ein gigantisches unterirdisches Netzwerk aus Pilzen und Wurzeln miteinander verbunden sind, über das sie auch Nährstoffe untereinander austauschen. Neu hingegen (und völlig falsch) ist die medial verbreitete Behauptung, dass es sich dabei um »stillende Mütter« handle, die ihre Baumbabys liebevoll säugen. Diese Deutungsweise geht auf ein Buch des Forstingenieurs Peter Wohlleben zurück. Auch Vergleiche mit »Kindergärten« und »Sozialämtern« im Wald sind völlig fehl am Platz. »Bäume haben Empfindungen, Gefühle«, erfährt der Leser des Buches und der medialen Rezeption. Sie »pflegen alte und kranke Nachbarn« und »kümmern sich liebevoll um ihren Nachwuchs.«
Wirklich problematisch wird es aber dann, wenn Herr Wohlleben im Interview mit dem ZDF für die Sendung »Aspekte« sagt, das Abknicken eines Astes tue dem Baum »weh«. Dies begründet er mit elektrischen Signalen, die im Inneren des Baumes auftreten. »Und das ist Schmerz«, so die Schlussfolgerung des Försters. Auch er setzt also das Auftreten elektromagnetischer Signale mit Schmerzwahrnehmung gleich. »Panik« und »Todesangst« sollen bei der Eiche genauso auftreten wie bei Tieren.
Im SWR-Interview verglich der Bestsellerautor die Nutzung von Getreide mit der »Nutzung« von Tieren: »Der Unterschied Tier-Pflanze ist ja rein willkürlich festgelegt und warum soll man Pflanzen nicht zugestehen, was man Tieren zugesteht?«
Abgesehen davon, dass unsere Gesellschaft Tieren ohnehin kein Leben in Würde und Freiheit zugesteht und der Vergleich mit Tierrechten daher hinfällig ist, sind solche Aussagen bedenklich. Es verwundert nicht, dass sich mittlerweile zahlreiche Antivegetarier und Antiveganer im Internet tummeln, die sich in ihren Hetzschriften auf das genannte Buch beziehen. Ob das vom Autor intendiert war? Wohl kaum, denn Herr Wohlleben ist ohne Zweifel ein umfassend gebildeter Mann. Vermutlich wird hier eine Art Bildsprache des Autors von einigen Lesern zu wörtlich genommen.

Pflanzen fühlen keine Schmerzen

Wenn Tompkins, Bird und Wohlleben Recht hätten, dann würde auch mein Magen Schmerzen wahrnehmen und Leid empfinden wie ein Tier. Denn auch in ihm findet ständig elektromagnetische Signalübertragung statt. Unsere Organe kommunizieren so miteinander. Sie leiten Information weiter. Diese Signale sind aber noch lange kein Schmerz – und auch kein Bewusstsein. Sie sind überhaupt keine Wahrnehmung, sondern sie sind Information. Die Wahrnehmung »Schmerz« entsteht erst durch den Wahrnehmenden in dessen Gehirn, das die Signale interpretiert. Es gibt Menschen, die keine Schmerzen wahrnehmen, weil diese Interpretation fehlschlägt. Aber die Signale treten in ihren Nervenbahnen dennoch auf. Mein Rachen leidet auch nicht unter einer Halsentzündung. Ich bin es, der die Schmerzen erleidet und dazu hat »die Evolution« mich mit den nötigen Hilfsmitteln ausgestattet. Es ist unzutreffend, das bloße Auftreten elektromagnetischer Signale mit bewusster Schmerzwahrnehmung gleichzusetzen. Was ist Schmerz überhaupt? Schmerz ist eine Warnfunktion. Ich empfinde Schmerzen, um darauf zu reagieren. Schmerz soll mich dazu bringen, mich aus einer Gefahrensituation zu bewegen oder Maßnahmen gegen Verletzungen und Krankheiten zu ergreifen. Dazu muss ich mobil sein, muss mich bewegen können, fortlaufen, aktiv reagieren. Pflanzen sind aber nicht mobil, sondern sie sind sessil. Das heißt, sie sind nicht in der Lage, sich aus einer Gefahrensituation zu bewegen oder andere Maßnahmen zu ergreifen. Während der gesamten Evolution des Lebens auf der Erde gab es für sessile Pflanzen keine Veranlassung, Schmerzwahrnehmung zu entwickeln.Die evolutionären Regelkreise der Natur weisen zwar manche „Designfehler“ auf, aber bewusste Schmerzwahrnehmung bei Pflanzen haben sie mit Sicherheit nicht hervorgebracht, darauf können wir vertrauen. Pflanzen sind evolutionär an Lebensräume angepasst, in denen ihnen ständig etwas abreißt. Stürme brechen Äste ab. Hagel zertrümmert ganze Kronendächer. Tiere trampeln unentwegt über Grashalme. Pflanzen haben ganz andere Strategien entwickelt, um in ihrem Lebensraum zurecht zu kommen. Schmerz gehört nicht dazu und auch Angst und Panik nicht. Denn auch Angst und Panik haben die Funktion, uns aus einer Gefahrensituation zu bewegen und uns in den Flucht- und Kampfmodus zu versetzen. Dazu muss man mobil sein.

Die Pflanze als das gänzlich andere Wesen

Die Pflanze ist »das gänzlich andere Wesen« und genau das macht sie so faszinierend. Sie hat sich im Stammbaum der Lebewesen vor Jahrmilliarden vom Zweig der Tiere und Menschen getrennt bzw. vice versa. Pflanzliche Spezies gehen seither völlig andere Wege als wir, haben ganz andere Lebensweisen entwickelt und verfolgen die exotischsten Überlebensstrategien. Die ethische Trennung zwischen Pflanze und Tier ist alles andere als willkürlich. Bei Pflanzen sind auch keine Strukturen bekannt, die funktionell mit unserem Nervensystem und unserem Gehirn vergleichbar wären.
All das bedeutet nicht, dass wir Pflanzen ausnutzen und ausbeuten können. Selbstverständlich ist ein nachhaltiger, respektvoller und achtsamer Umgang mit der Pflanzenwelt und unseren Ökosystemen zu fordern und da gibt es noch viel Aufholbedarf. Aber die derzeit moderne Gleichsetzung von Tierleid und »Pflanzenleid« ist durch nichts zu rechtfertigen. Daher macht es auch einen Unterschied, ob ich eine Bohne esse oder ein Schwein.

Warum ich Bohnen esse, aber keine Schweine

Viele Teile werden von der Pflanze eigens produziert, um gegessen zu werden. Ein Apfel zum Beispiel schmeckt lecker, weil er gegessen werden »will«. Unter natürlichen Bedingungen würde ein Wildapfelbaum auf diese Weise seine Samen verbreiten. Getreidehalme sind längst von Natur aus abgestorben, wenn sie geerntet werden. Die Bohnenhülse weist eine Sollbruchstelle auf, denn sie soll ja abfallen. Bei unzähligen pflanzlichen Lebensmitteln stellt sich die Frage nach dem Schmerzempfinden bei Pflanzen gar nicht, während für die übrigen Fälle das bereits Gesagte gilt.
Wenn Pflanzen über eine Art von Bewusstsein verfügen, dann muss dieses von unserem so unterschiedlich sein, dass wir ohnehin keine Aussagen darüber treffen können. Aber Pflanzen sehen nicht und hören nicht, wie das oft behauptet wird. Sie sind vielmehr eingebettet in die großen Regelkreise der Natur und nehmen kollektiv an diesen Teil. Auch unsere Organe können auf ihre Weise alles, was Pflanzen können. Dennoch glauben wir nicht, dass jedes Organ für sich genommen Leid und Schmerz empfindet, Wünsche hegt, Angst und Enttäuschungen verspürt. Auch subjektives Verhalten tritt bei Pflanzen in den Hintergrund.
Während wir auf die Nutzung von Tieren nicht angewiesen sind, ist die Nutzung von Pflanzen unvermeidbar. Aber wir können uns mit einer Gewissheit trösten: Salat zu pflücken und Möhren auszubuddeln ist nicht dasselbe wie einem Tier die Kehle durchzuschneiden. Daran können die seit Jahrzehnten in regelmäßigen Abständen auftretenden Medien-Hypes auf das »geheime« Leben der Pflanzen auch nichts ändern. So geheim ist dieses Leben übrigens gar nicht. Die sogenannte Pflanzensoziologie ist seit langem Teil der Biologie und das Sozialleben der Pflanzen sowie deren Kommunikation innerhalb eines Ökosystems wird seit Jahrzehnten erforscht. Und kein seriöser Biologe hat jemals die Notwendigkeit gesehen, die Unterscheidung zwischen Pflanze und Tier aufzuheben. Das, liebe Leute, wäre wirklich absurd.

aus dem VEGANMAGAZIN August/September 2016


Clemens G. Arvay ist Biologe und Sachbuchautor aus Österreich. www.clemensarvay.com